Mit Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 21.12.2011 über die Neufassung der Hilfsmittel-Richtlinie wurde der Bereich bezüglich Hörhilfen überarbeitet und nunmehr an den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik und an die Versorgungspraxis angepasst. Die Richtlinie sieht vor, dass die gesetzliche Krankenversicherung für solche Hörgeräte aufkommt, die nach dem Stand der Medizintechnik Funktionsdefizite des Hörvermögens möglichst weitgehend ausgleichen, und zwar im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit dem maximalen Hörvermögen eines gesunden Menschen. Als Versorgungsziel wird in der Richtlinie festgelegt: § 19 Versorgungziele (1) Zielsetzung der Hörgeräteversorgung ist es, a) ein Funktionsdefizit des beidohrigen Hörvermögens unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts möglichst weitgehend auszugleichen und dabei – soweit möglich – ein Sprachverstehen bei Umgebungsgeräuschen und in größeren Personengruppen zu erreichen sowie b) die Auswirkungen einer auditiven Kommunikationsbehinderung im gesamten täglichen Leben und damit bei der Befriedigung von allgemeinen Grundbedürfnissen zu beseitigen oder zu mildern. Dieser Entwicklung liegt mitunter das Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.12.2009 (Az.: B 3 KR 20/08 R) zugrunde, mit welchem der Leitsatz aufgestellt worden ist, dass im gesetzlichen Krankenversicherungssystem Versicherte Anspruch auf die Hörgeräteversorgung haben, die die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, soweit dies im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet. Die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel könne nach der Rechtsprechung des BSG nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisherige Versorgungsstand sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht ist. Im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens zu der Überarbeitung der Hilfsmittel-Richtlinie hat interessanterweise die Bundesinning der Hörgeräteakustiker KdöR ausgeführt, dass im Hinblick auf das zitierte Urteil des BSG davon auszugehen sei, dass es sich zum einen um eine Einzelfallentscheidung handle und zum anderen das Urteil ausschließlich auf an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit Anwendung finde. Die Bundesinnung der Hörgeräteakustiker hat daher einen sehr restriktiven Formulierungsvorschlag hinsichtlich des § 19 unterbreitet. Dem ist der G-BA in der Würdigung der Stellungnahme deutlich entgegengetreten. Im Beratungsergebnis wird festgehalten, dass die in dem Urteil vom 17.12.2009 getroffenen Aussagen und Zielsetzungen der Hilfsmittelversorgung nicht auf den Einzelfall bezogen sind, sondern umfänglich auf die Hilfsmittelversorgung Anwendung finden. Der Beschluss war dem Bundesministerium für Gesundheit zur Prüfung vorgelegt und trat mit Bekanntmachung im Bundesanzeiger am 01.04.2012 in Kraft.
EUGH – ALTERSRENTE WEGEN BEHINDERUNG IST UNZULÄSSIGER ANKNÜPFUNGSPUNKT BEI ABFINDUNGEN NACH SOZIALPLAN
Nach der gesetzlichen Definition des § 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG ist ein Sozialplan eine Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die dem Arbeitnehmer infolge von geplanten Betriebsänderungen (zumeist betriebsbedingte Kündigung) entstehen. Der Zweck des Sozialplans ist die zukunftsorientierte Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion, so dass hauptsächlicher Inhalt von Sozialplänen Abfindungszahlungen bei Verlust des Arbeitsplatzes sind. Da für Sozialpläne regelmäßig nur begrenzte wirtschaftliche Mittel zur Verfügung stehen, ist es erforderlich, den Betriebsparteien eine ungleichmäßige Verteilung dieser Mittel zu gestatten (BAG v. 26.05.2009 – 1 AZR 198/08). Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte indes nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes (bspw. Behinderung und Alter) benachteiligt werden. Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen dieses Benachteiligungsverbot verstoßen, sind nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Eine Ungleichbehandlung wegen Alters ist jedoch nach dem gesetzgeberischen Willen (§ 10 AGG) und nach std. Rspr. des BAG in gewissen Fällen zulässig. § 10 Satz 1 und 2 AGG gestatten die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters, wenn diese objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist und wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Dabei können die Betriebsparteien nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung vorsehen, in der sie die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigen, oder auch Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausschließen, weil diese, gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld I, rentenberechtigt sind. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber den Betriebsparteien einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum eröffnet, der es ihnen unter den in der Vorschrift bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, das Lebensalter als Bemessungskriterium für die Sozialplanabfindung heranzuziehen. Der Gesetzgeber ging bei der Gestaltung des § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG davon aus, dass diejenigen Arbeitnehmer wirtschaftlich abgesichert sind, die, gegebenenfalls nach dem Bezug von Arbeitslosengeld, rentenberechtigt sind. Auch in dem nunmehr vom Europäischen Gerichtshof (Az.: C.152/11) zu entscheidenden Fall war, aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Arbeitsgerichts München, zu dieser Fallkonstellation Stellung zu nehmen. In dem streitgegenständlichen Sozialplan wurde auch die Höhe der Abfindungssumme daran geknüpft, ob Beschäftigte nahtlos Anspruch auf (auch gekürzte) Altersrente haben. Nach dem deutschen Rentenrecht können schwerbehinderte gegenüber nicht behinderten Beschäftigten (derzeit) 3 Jahre früher in Altersrente gehen. Diese gesetzliche Regelung aufgreifend, erhielten nach dem Sozialplan schwerbehinderte Mitarbeiter im Vergleich zu nicht schwerbehinderten Mitarbeitern der gleichen Altersgruppe, eine geringere Abfindung. Der EuGH führt in den Entscheidungsgründen hierzu aus, dass trotz des anzuerkennenden Ziels einer gerechten Verteilung der begrenzten finanziellen Mittel, relevante Gesichtspunkte, die insbesondere die schwerbehinderten Arbeitnehmer betreffen, unberücksichtigt gelassen wurden. Die Vertragsparteien des Sozialplans haben nämlich sowohl das Risiko für Schwerbehinderte, die im Allgemeinen größere Schwierigkeiten als nichtbehinderte Arbeitnehmer haben, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, als auch die Tatsache verkannt, dass dieses Risiko steigt, je mehr sie sich dem Renteneintrittsalter nähern. Diese Personen haben jedoch spezifische Bedürfnisse im Zusammenhang sowohl mit dem Schutz, den ihr Zustand erfordert, als auch mit der Notwendigkeit, dessen mögliche Verschlechterung zu berücksichtigen. Wie die Generalanwältin in Nr. 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist dem Risiko Rechnung zu tragen, dass Schwerbehinderte unabweisbaren finanziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgesetzt sind und/oder dass sich diese finanziellen Aufwendungen mit zunehmendem Alter erhöhen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Maßnahme bewirkt folglich dadurch, dass sie bei betriebsbedingter Kündigung zur Zahlung eines Abfindungsbetrags an einen schwerbehinderten Arbeitnehmer führt, der geringer ist als die Abfindung, die ein nichtbehinderter Arbeitnehmer erhält, eine übermäßige Beeinträchtigung der legitimen Interessen schwerbehinderter Arbeitnehmer und geht daher über das hinaus, was zur Erreichung der vom deutschen Gesetzgeber verfolgten sozialpolitischen Ziele erforderlich ist. Die Ungleichbehandlung ist nach Unionsrecht daher unzulässig.
HÖRGERÄTEVERSORGUNG
Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs und der kostenmäßigen Begrenzung der Leistungspflicht auf Festbeträge Im System der gesetzlichen Krankenversicherung gilt grundsätzlich, dass die Krankenversicherung dem Versicherten Leistungen als Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen hat (§ 2 Abs.2 SGB V), sofern diese Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind (§ 12 Abs.1 SGB V). Dem Leistungsanspruch liegen damit (mitunter) zwei wesentliche Grundprinzipien zugrunde. Das Sachleistungsprinzip und das Wirtschaftlichkeitsgebot. Nach dem Sachleistungsprinzip haben Versicherte Anspruch auf unmittelbare Dienstleistungen (ärztliche Behandlung), Versorgung in zugelassenen Einrichtungen (Krankenhäuser oder andere Einrichtungen) sowie auf Versorgung mit Sachleistungen (Arzneimittel, Hilfsmittel). Über die Kosten der Versorgung haben die Krankenkassen mit den Leistungserbringern Verträge zu schließen, der Versicherte erhält hier in der Regel keinen Einblick. Eine generalklauselartige Eingrenzung dieses Leistungsanspruchs sieht das Gesetz aber mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot vor. Leistungen, die … unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ Eine besondere Ausprägung dieses Wirtschaftlichkeitsgebots findet sich im Gesetz in der Bestimmung zu Festbeträgen für Hilfsmittel (§ 36 SGB V). Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2002 (Az.: 1 BvL 28/95) stellen Festbetragsregelungen ein verfassungskonformes Instrumentarium dar, um die Kostenbelastung innerhalb des gesetzlichen Krankenversicherungssystems zu steuern. Die Festbeträge sind vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen so festzusetzen, dass Sie im Allgemeinen eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten (§ 35 Abs.5 SGB V). Bestehen Versicherte auf eine Versorgung, die den Festbetrag überschreitet, laufen sie Gefahr, den übersteigenden Mehrbetrag für selbst beschaffte Hilfsmittel selbst tragen zu müssen. Der Festbetrag beschränkt die Leistungspflicht aber keinesfalls pauschal. Der Einzelfall ist entscheidend. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Az.: B 3 KR 20/08 R) haben gesetzlich Krankenversicherte Anspruch auf eine Hörgeräteversorgung, welche die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, soweit die konkret gewählte Hörgeräteversorgung im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörgeräten bietet. Reicht der Festbetrag hierfür nicht aus, kann mithin der Behinderungsausgleich aller, nach Art und Grad der Schwerhörigkeit vergleichbar betroffenen Versicherten, nicht erreicht werden, bleibt es bei der Verpflichtung der Krankenkasse zur kostenfreien Versorgung der Versicherten. In diesem Zusammenhang kann der Versicherte einen Kostenerstattungsanspruch (§ 13 Abs.3 S.1 Fall 2 SGB V) gegenüber der Krankenkasse für selbst beschaffte Leistungen erlangen, sofern wesentliche, im nachfolgenden bezeichnete Schritte eingehalten werden. Ein Kostenerstattungsanspruch ist nur dann eröffnet, wenn eine beantragte Leistung durch die Krankenkasse zu Unrecht abgelehnt wurde und dem Versicherten „dadurch“ Kosten für die selbst beschaffte Leistung entstanden sind. Konkret bedeutet dies: Es ist bei der Krankenkasse zunächst ein Antrag auf Kostenübernahme der Kosten des Hörgeräts zu stellen, welches die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt. Ein Vertrag mit dem Hörgeräteakustiker darf zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen sein. Unschädlich sind dagegen Vorbereitungshandlungen, die den Versicherten noch nicht vertraglich binden und die regelmäßig Voraussetzung für den Leistungsantrag sind. Hierzu zählen beispielsweise die Prüfung der Eignung und Anpassungsfähigkeit der in Betracht kommenden Hörgeräte. Die Entscheidung der Krankenkasse muss abgewartet werden. Erst nach ablehnender Entscheidung der Krankenkasse darf ein Vertrag mit dem Hörgeräteakustiker über das Hörgerät geschlossen werden, und damit das Hilfsmittel „selbst beschafft“ werden. Ob die Krankenversicherung die Versorgung mit einem konkreten Hörgerät zu Unrecht abgelehnt hat, bleibt also jeweils eine Einzelfallentscheidung. Ein Hilfsmittelfestbetrag bewirkt nur dann keine Leistungsbegrenzung, wenn der Festbetrag für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht.